Erich Kästner

"Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie erwachsen, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein wirklicher Mensch."

Erich Kästner

Freitag, 18. Oktober 2013

Die Würde des Schweins ist unantastbar

Reinhard Mey ist beileibe kein Musiker, der meinen Geschmack in Sachen Aneinanderreihung von Tönen trifft, allerdings ist er mir aus zwei Gründen sympathisch:


1.) Er ist Vegetarier

2.) Seine Texte sind gut, sie regen zum Nachdenken an und bringen die kleinen (und teilweise auch die großen) Dinge des Lebens auf den Punkt.


Als ich das hier rezitierte Lied das erste Mal hörte, löste es ein wahres Chaos an Gefühlen aus. Wut, Trauer, Empathie, um nur einige zu nennen. Einfach mal wirken lassen. Bleibt noch anzumerken, dass alle Rechte natürlich beim Autor liegen, ich hoffe, Reinhard Mey hat nichts gegen den Abdruck in einem sporadisch frequentierten Blog;)


Die Würde des Schweins ist unantastbar!

In einer engen Box war es,
Auf Beton, unstandesgemäß,
Daß sie die Glühbirne der Welt entdeckte.
Sie war das Ferkel Nummer vier,
Drei andre lagen über ihr.
So ein Gedränge, daß sie fast erstickte!
Schon nach zwei Wochen Säugakkord
Kam jemand und nahm Mutter fort,
Doch noch als die Erinn‘rung schon verblaßt war,
Fielen manchmal dem jungen Schwein
Der Mutter Worte wieder ein:
„Die Würde des Schweins ist unantastbar!“

Der Kerker wurde ihr Zuhaus‘.
An einem Fleck tagein, taugaus.
Und immer im eigenen Dreck rumsitzen.
Die feine Nase, der Gestank!
Sie wurde traurig, wurde krank,
Und als sie sehr krank wurde, gab es Spritzen.
Sie wurd‘ zum Decken kommandiert, –
Das hat sie niemals akzeptiert,
Daß Schweinesein nur Ferkelzucht und Mast war:
Und wenn man ihren Wille brach,
Dachte sie dran, die Mutter sprach:
„Die Würde des Schweins ist unantastbar!“
Dann fuhr der Viehtransporter vor,
Man packte sie an Schwanz und Ohr
Zusammen mit ihren Leidensgenossen.
Die zitterten und quiekten bang

Und fuhr‘n und standen stundenlang,
Viel enger noch als üblich eingeschlossen.
Das Schwein ist schlau, so ahnt es schon
Die tragische Situation.
Sie wußte, daß dies ihre letzte Rast war.
Sie hat den Schlachthof gleich erkannt,
Und sie ging ohne Widerstand.
Die Würde des Schweins ist unantastbar!
Sie hat den Himmel nie gesehn,
Durft‘ nie auf einer Weide stehn,
Hat nie auf trockenem, frischem Stroh gesessen.
Sie hat sich nie im Schlamm gesuhlt,
Freudig gepaart und eingekuhlt –
Wie könnte ich dies Häufchen Elend essen?
Die Speisekarte in der Hand
Seh‘ ich über den Tellerrand
Und kann die Bilder wohl nie vergessen.
Ich möchte nicht, du armes Schwein,
An deinem Leid mitschuldig sein,
Weil ich in diesem Restaurant zu Gast war.
Und ich bestell‘ von nun an wohl
Den überback‘nen Blumenkohl.
Die Würde des Schweins ist unantastbar!
REINHARD MEY

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